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Digital Health ist die interdisziplinäre Verbindung von Gesundheit, Gesundheitsfürsorge, Leben und Gesellschaft mit digitalen Medizin- und Gesundheitstechnologien, um die Effizienz der Gesundheitsversorgung zu verbessern und Arzneimittel individueller und wirkungsvoller einsetzen zu können.
Digitale Innovationen mit echtem Mehrwert für die Patienten sind europaweit auf dem Vormarsch. In Deutschland gibt es jedoch viele Vorbehalte gegenüber neuen Technologien. Alexander Schachinger, Gründer und Geschäftsführer von healthcare42.com und Moderator auf der Konferenz Health 2.0 Europe, über die Chancen digitaler Gesundheitsdienste in Deutschland.

Herr Schachinger, derzeit bereiten Sie mit healthcare42 und Publicis Healthware / razorfish eine Haushaltsbefragung zur Nutzung von Gesundheitsinformationen im Internet durch chronische Patienten vor. Worauf genau zielt die Studie ab?
Alexander Schachinger: In Deutschland wurde noch nie repräsentativ und basierend auf der internationalen E-Patientforschung untersucht, wie sich die Nutzung von Gesundheitsinformationen durch Chroniker auf deren Wissen, ihre Einstellungen und ihr Verhalten auf dem Gesundheitsmarkt, also vor allem gegenüber Ärzten und Apothekern auswirkt. Hier wollen wir eine Forschungslücke schließen, denn das Thema "E-Patient" ist in Deutschland bisher sträflich vernachlässigt worden. Unter anderem in Zusammenarbeit mit der KWHC GmbH haben wir bereits eine Online-Befragung mit 3.500 E-Patienten durchgeführt. Wir konnten zeigen, dass das Internet, der Austausch in Foren und ähnliches Auswirkungen auf die Patienten haben, insbesondere auf das Arztgespräch und auf die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Therapie.

Wie definieren Sie den "E-Patienten"?
Mit diesem Begriff meinen wir Patienten, die an chronischen Erkrankungen leiden, aber auch Akutpatienten, die das Internet zur Information über Gesundheitsthemen und zum Austausch nutzen. Wir verwenden einen sehr umfassenden Begriff, der auch die Angehörigen mit einbezieht, die sogenannten "Caregiver", also Eltern, Kinder oder Ehepartner, die sich im Internet über Krankheiten von ihnen Nahestehenden informieren.

Nach welchen Informationen suchen E-Patienten?
Sie suchen nach Erklärungen für ihre Symptomatiken, aber auch nach Informationen über Therapien, Behandlungen und Medikamente. E-Patienten suchen häufig auch nach Empfehlungen und Bewertungen von Krankenhäusern und Ärzten. Als sehr wertvoll nehmen vor allem chronisch Kranke den Austausch mit Leidensgenossen in Foren wie med1.de, imedo.de oder netdoktor.de wahr - das Stichwort ist: "patients like me". E-Patienten sind aber auch kritisch. Sie hinterfragen ärztliche Diagnosen und suchen nach Alternativen zu den vom Arzt vorgeschlagenen Therapien.

Diese Informationen stammen zumeist von Laien. Besteht hier nicht ein grundsätzlicher Konflikt zu professionell validierten Informationen? Wie kann die Qualität dieser Informationen gesichert werden?
An dieser Stelle muss ich provokativ werden: Eine solche Fragestellung entspringt einem traditionellen Denken im Gesundheitswesen, in dem der Arzt der alleinige Hüter des medizinischen Wissens ist. Themen wie Qualitätssicherung und Datenschutz werden vornehmlich im Modus der Bedrohung wahrgenommen - eine typische Reaktion und ein typischer Habitus im deutschen Gesundheitswesen. Der Großteil der Kommunikationen im Internet wird jedoch nicht von den üblichen Akteuren im Gesundheitswesen, sondern mehrheitlich von nicht-traditionellen Marktakteuren produziert. Vor allem Verlagshäuser und Start-Ups betreuen in Sachen Reichweite die mit Abstand führenden Gesundheitsportale und Communities. Informationen, die dort und in Patientenforen generiert werden, stehen überhaupt nicht im Widerspruch zu einer evidenzbasierten Medizin oder zu ärztlich verordneten Therapien. Sie wirken eher ergänzend, weil es den Akteuren des Gesundheitswesens nicht gelingt, relevante Inhalte für Chroniker und ihre konkreten Alltagsprobleme zu schaffen. Die Patientenperspektive und die Alltagsperspektive eines Chronikers werden oft nicht verstanden. Durch die gezielte Schulung von Ärzten zu Patienteninformationen könnten hier aber sicherlich einige Verbesserungen erzielt werden.

Worin liegen die Ursachen für das ärztliche Unverständnis der Patientenperspektive?
Es gibt ein Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage. Patienten wollen konkrete Hilfe zu konkreten Alltagsproblemen. Das trifft auf nahezu allen Indikationen zu. Wenn diese Hilfe von ärztlicher Seite nicht bereitgestellt wird, dann helfen sich die Patienten selbst. Ähnliche Patienten mit ähnlichen Problemen reden die gleiche Sprache und suchen ähnliche Lösungen. In der Netzwerkforschung nennt man dieses Phänomen auch "effektive Praktikgemeinschaften". Es gibt aber auch ein strukturelles Problem: Ärzte sind an Regularien und an gesundheitsökonomische Rahmenbedingungen gebunden. Nicht zuletzt aus Gründen der Bürokratie bleibt ihnen wenig Zeit, mit ihren Patienten zu reden, nämlich fünf Minuten pro Quartal und Patient. Ein Diabetespatient ist aber 24 Stunden pro Tag krank. In einem Forum kann er jederzeit und von überall auf der Welt seine Fragen stellen. Wir haben ermittelt: Im Durchschnitt werden in Foren gestellte Fragen von sieben Patienten und nach nur 17 Stunden beantwortet. Das sind phänomenale Werte, die in der Face-to-Face-Interaktion zwischen Ärzten und Patienten niemals erreicht werden könnten.

Welches sind ihrer Meinung nach die derzeit wichtigsten Entwicklungen im Bereich der digitalen Gesundheit? Welche Anwendungen und Software-Lösungen weisen den Weg in Richtung Zukunft?
Wir werden parallel zur Health 2.0-Konferenz eine Studie veröffentlichen, in der die 800 meistbesuchten Gesundheits-Websites analysiert werden. In Sachen Reichweite und Aktualität haben eindeutig die nicht-traditionellen Akteure, also Start-Ups und Verlagshäuser die Nase vorn. Es gibt darunter zahlreiche Dienste, die Therapien unterstützen und den Patienten echten Mehrwert bieten, wie Such- und Austauschfunktionen auf Webseiten, mobile Dienste für bestimmte Indikationen oder patientengenerierte Feedbacks, die aufzeigen, welche Therapie bei welcher Symptomatik am effektivsten geholfen hat und viele mehr. Es gibt kleinere Pilotprojekte bei Kliniken und Krankenkassen, aber das sind allenfalls bescheidene Ansätze. Von dem Ziel, die Versorgungsstrukturen der traditionellen Player mit digitalen Mehrwertdiensten zu verbinden, sind wir in Deutschland noch weit entfernt.

Warum hinken die traditionellen Player so stark hinterher?
Vielleicht hilft ein Vergleich: Früher haben die mittelalterlichen Mönche gegen die Druckerpresse gewettert, Microsoft Manager bezeichneten Open Source und Linux einmal als "Kommunismus". Genauso werden Innovationen im Gesundheitswesen oftmals gesehen: Im Internet, so die landläufige Meinung, gebe es keine Qualität. Noch kritischer sind die Anreizstrukturen: Im Vergütungskatalog der Krankenkassen kommen digitale Dienstleistungen schlicht nicht vor. Gesundheits-Apps oder Patienten-Communities, in denen sich Betroffene über den Umgang mit ihrer Erkrankung austauschen, werden nicht bezahlt, obwohl sich dies nachweislich positiv auf Wissen und Adhärenz auswirken kann. Eine Klinik oder ein Pharmaunternehmen hat für so etwas keinen wirtschaftlichen Anreiz. Für Start-Ups bedeutet das, dass sie sich entweder über Werbung finanzieren müssen oder dass der Patient für den digitalen Dienst zahlen muss.

Können Sie uns ein paar beispielhafte Innovationen nennen?
Das Forschungsprojekt wird auf unserer Webseite vorgestellt. Eine erste Übersicht präsentiere ich auf der Health 2.0-Konferenz. Eine Pressemitteilung zu unserer ersten systematischen Online-Marktanalyse veröffentlichen wir in wenigen Tagen.

Was erwartet uns auf ihrem Vortrag auf der Health 2.0-Konferenz?
Ich werde darstellen, wie Pharmaunternehmen weltweit und in Deutschland im digitalen Bereich aktiv sind. Mit digitalen Innovationen können die Patientenversorgung und die medizinische Forschung deutlich verbessert werden. Darüber hinaus zeichnet sich ein Wandel in den Geschäftsmodellen der Pharmaunternehmen ab. Es gibt erste Ansätze, wie sich die Unternehmen von reinen Arzneimittelverkäufern zu Anbietern von Gesundheitsdienstleistungen über das Medikament hinaus entwickeln. In meinem Vortrag erörtere ich, was es heute schon gibt und welche Szenarien mittelfristig denkbar sind.

Bieten digitale Innovationen im Gesundheitswesen die Möglichkeit von Kostensenkungen?
Das Potential ist riesig. Allein für Deutschland werden die sogenannten Non-Compliance-Kosten, also diejenigen Kosten, die durch mangelnde Therapietreue entstehen, auf ca. 30 Mrd. Euro geschätzt. Beispielsweise können zugeschnittene digitale Dienste für Betreuung, Aufklärung und Patienten-Feedbacks dazu beitragen, die Versorgung zu optimieren, Kosten zu reduzieren und gleichzeitig die Evaluation verschiedener Behandlungen aus der Alltagssicht der Patienten fördern. Dieser Ansatz nennt sich "Information Therapy" - was bedeutet: die richtige Information zur richtigen Zeit an den richtigen Patienten zu bringen.

Zum Schluss noch einen Blick über den Tellerrand: Wo steht denn Deutschland im Bereich digitale Gesundheit im internationalen Vergleich?
Kleinere Länder, vor allem in Europa, sind uns weit voraus. In Dänemark sind digitale Gesundheitsdienste schon landesweit implementiert, in der Schweiz sind die Planungen weit fortgeschritten. Dort gibt bereits elektronische Patientenakten, in denen alle Patienten online ihre Röntgenbilder, Arztbriefe und ähnliche Daten einsehen können. In Holland gibt es vorbildliche Kooperationen und Pilotprojekte zwischen Krankenhäusern, Universitäten und Patienten-Plattformen. Dort gibt es eine echte Online-Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten. Es spricht nichts dagegen, dass man diese Dinge auch hierzulande einführt. Besonders für Krankenhäuser, die sich hierzulande in einem starken Konkurrenzkampf befinden, bieten diese Dienste (z.B. drimpy.com) große Chancen zur Marktpositionierung. Leider lautet aber die bisherige Diagnose: In Deutschland werden die Themen "Digitale Gesundheit" und "Gesundheit im Internet" von den traditionellen Akteuren fast schon systematisch vernachlässigt, und das, obwohl circa 40 Millionen Deutsche das Internet regelmäßig zu Gesundheitsthemen nutzen. Ich vermute, das wird sich dieses Land nicht mehr lange erlauben können.

Über Health 2.0 Europe
Health 2.0 Europe ist die führende Konferenz in Sachen Gesundheit und IT. Sie widmet sich der Frage, wie Web 2.0 und Social Media die Gesundheitsversorgung in Europa verändern. Bei dieser Konferenz kommen Experten aus dem Gesundheitswesen, der mobilen Internetbranche und Social Media-Unternehmer zusammen, um sich mit der Frage zu beschäftigen, wie mobile Technologien die Behandlung von Krankheiten und deren Ergebnisse verändern. Die Veranstalter von Health 2.0 Europe sind Pioniere der Branche, die über jahrelange Erfahrung in den Feldern Gesundheit und Internet verfügen. Zu ihnen gehören Matthew Holt und Indu Subaiya, die Gründer von Health 2.0 in San Francisco.

Über Alexander Schachinger
Alexander Schachinger verfolgt das Thema Health 2.0 mit großer Leidenschaft. Im Anschluss an eine erfolgreiche Laufbahn im Bereich der digitalen Medienberatung in Deutschland und Kanada schreibt er zurzeit an seiner Dissertation. Bei Health 2.0 Europe wird er die Ergebnisse seiner Studie vorstellen, in der er eine qualitative Befragung von E-Patienten und die erste jemals vorgenommene systematische Analyse von Gesundheitswebsites durchgeführt hat.

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